Aufruhr bei Vogelhaus 108

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Tippfehlerkorrektur und Einfügung in Kontext hier Atomkraft

[Bearbeiten] Aufruhr bei Vogelhaus 108

[Bearbeiten] Wie der Castor durch Marbach fuhr

Der Castor rollt durchs Land. Wie seit Monaten angekündigt, rollt der letzte Zug mit 11 Castorbehältern voll mit hochradioaktivem Material vom französischen La Hague ins niedersächsische Zwischenlager Gorleben.

An vielen Orten entlang der Strecke gibt es Mahnwachen und andere Aktionen der aktiven Kernkraftgegner, um die Gefahren einer zukunftslosen und höchst gefährlichen Technologie auf die Straße zu tragen. So auch in Fulda.

Donnerstag ab 17.00 Uhr: Am Bahnhofsvorplatz beginnt eine Mahnwache zum Castortransport, der auf seinem Weg auch direkt durch den Fuldaer Bahnhof fahren wird. In enger Abstimmung mit den Behörden wurde ein flexibles zeitliches Vorgehen, abgestimmt auf die Schnelligkeit bzw. Langsamkeit, mit der der Castorzug sich durch die Lande bewegt, besprochen. Und tatsächlich, kurz vor der Grenze bleibt der Zug in Frankreich stehen und startet erst wieder am Freitag morgen. Um 10.01 Uhr überquert er bei Forbach die deutsche Grenze und bringt uns seine unheilvolle Fracht.

Freitag, 13.00 Uhr Auf dem Bahnhofsvorplatz beginnt erneut eine Mahnwache, die bis zur Durchfahrt des Castor geplant ist. Im Laufe des Nachmittags und Abends kommen weit über 70 Leute zum Atomsymbol, das die Greenpeace-Gruppe Fulda mit mehreren Metern Durchmesser aus Grablichtern aufgebaut hat. Nach Einbruch der Dunkelheit zieht dieses leuchtende Symbol einer menschenverachtenden Technologie viele Passanten heran. Es wird viel diskutiert auf dem Platz, meist sind es zustimmende Äußerungen der Teilnehmer, die nicht verstehen können, daß jahrzentelang eine Technologie blauäugig hofiert und massiv finanziell gefördert wurde, nur um die Profite einiger weniger Großkonzerne in ungeahnte Höhen zu treiben, deren Risiken jedoch meist runtergeredet wurden und deren Störfälle, die es auch im sogenannten Regelbetrieb zuhauf gibt, oft verschleiert, abgestritten und vertuscht wurden. Es ist kalt auf dem Bahnhofsvorplatz. Sympathisanten bringen Pizzen und heißen Tee, der dankbar angenommen wird. Viele Teilnehmer kommen vorbei, bleiben einige Zeit und müssen wieder ihrer Wege ziehen, sind jedoch mental bei den Aktivisten vor Ort. So hat es für einen unbeteiligten Zuschauer den Anschein, es seien nur wenige Unermüdliche auf dem platz, doch dieser Eindruck täuscht. Nicht erst seit den verheerenden Katastrophen in Fukushima ist eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung von der Gefährlichkeit des Betriebes von Atomkraftwerken überzeugt. Ganz zu schweigen von der ungelösten Frage nach einem Endlager für deren hochradioaktiven Abfälle, die unsere Nachfahren noch in 100.000 Jahren beschäftigen und in Gefahr bringen werden. Gerade erst hat die Regierung eine erneute Suche nach einem Endlager gestartet, nachdem die damalige politische Festlegung auf Gorleben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem enormen Druck der betroffenen Bevölkerung vor Ort nicht länger haltbar war.

Am späteren Abend findet sich an der Mahnwache eine Journalistin der Nachrichtenagentur dapd ein. Sie berichtet vom Castor und den Aktionen, will die Stimmung der Teilnehmer einfangen. Plötzlich erhält sie einen Anruf eines Kollegen, der ihr mitteilt, daß an der Bahnstrecke am Haunestausee bei Marbach eine Aktion stattfindet. Aktive Kernkraftgegner wollen sich an den Schienen festketten, um den Atommülltransport aufzuhalten. Da sie völlig ortsunkundig ist, erkläre ich mich bereit, sie nach Marbach zum Haunestausee zu lotsen. Einige der anderen Mahnwachenteilnehmer wollen sich zur Hochschule begeben, um mit einer Party unter dem Motto "Castor abbassen" in der Nähe der Bahnlinie zu protestieren.

In zwei Wagen fahren wir über die B27 nach Marbach und dort zum Bahndamm. Wir parken unsere Fahrzeuge bei den Drei Brücken. Überall sehen wir auf dem erhöhten Bahndamm Scheinwerfer. Die Bundespolizei sucht die Strrecke ab, um etwaige den Transport störende Aktive zu finden, bevor der Zug die Strecke passiert und durch diese aufgehalten werden kann. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Zug noch kurz hinter Biblis in Südhessen. Auch in der Umgebung der Bahnstrecke gehen Patrouillen mit Taschenlampen im Dunkeln auf die Suche nach den Blockierern. Wir sind kaum aus dem Wagen ausgestiegen, als auch schon ein Mannschaftswagen der Bundespolizei bei uns hält. Ein dem Dialekt nach aus Süddeutschland stammender Beamter fragt nach unserem Begehr. Meine Begleitung weist sich mit Ihrem Presseausweis aus und stellt sich vor und mich als ihren ortskundigen Begleiter. Der Beamte nimmt den Ausweis sowie unsere beiden Personalausweise und notiert sich die Kennzeichen unserer Fahrzeuge. Mit seinem Kollegen sitzen sie etwa 10 Minuten im Wagen und überprüfen, wen sie da vor sich haben.

Wir stehen draußen bei gefühlten 0 Grad. Er kommt aus seinem Wagen und übergibt uns die Ausweise mit der Auflage nicht die Polizeiarbeit zu behindern und uns von den Gleisen fernzuhalten. So haben wir nun also die Erlaubnis zum Ort des Geschehens aufzubrechen. Wir unterqueren die Brücke. Mithilfe unserer Taschenlampen finden wir uns zurecht. Auf der anderen Seite sehen wir rechts einen weiteren Polizeiwagen stehen, links oben am Ende der Staumauer ein ganzer Parkplatz mit Polizeifahrzeugen. Mittlerweile ruft der Fotoreporterkollege meiner Begleiterin wieder an und versucht uns zu erklären, wo wir hin müssen, was sich in einem dunklen Wald ohne richtige Wege und ohne Beschilderung als ziemlich unklar herausstellt. Wir ersteigen die Staumauer, die von einer steilen Wiese begrenzt wird und überqueren die Mauerkrone. Beim Durchschreiten des Parkplatzes mit den Polzeifahrzeugen nimmt niemand von uns Notiz. Wahrscheinlich sind wir bereits angemeldet worden. Hinter den Fahrzeugen betreten wir den Wald und kämpfen uns durch eine Senke hin zum Bahndamm, auf dem uns ebenfalls Glühwürmchen mit leuchtenden Warnwesten entgegenkommen und unsere Ausweise erneut kontrollieren. Wir werden freundlich gebeten und aufgefordert, aus Gründen unserer eigenen Sicherheit nicht den Bahndamm zu betreten, da der Zugverkehr hier nicht unterbrochen ist und wir in der Dunkelheit nicht gut auszumachen sind. Auch der Weg neben dem Gleis ist uns aus Sicherheitsgründen versperrt. Aber wir bekommen gezeigt, wo wir hin müssen und eine Wegempfehlung zurück durch den Wald hin zum Schauplatz des Geschehens. So steigen wir wieder den Bahndamm herab und die Glühwürmchen marschieren weiter.

Zurück durch den Wald ersteigen wir einen steilen Hang. Ein angedeuteter Waldweg führt uns nach einigen Hundert Metern zum Ort des Geschehens. An dieser Stelle ist der Wald V-förmig eingeschnitten. Wir befinden uns auf der Seite des Stausees oben auf dem Hang, unten verläuft etwa 15 Meter tiefer das zweispurige Bahngleis. An einem Baum hängt ein Vogelhaus mit der Nummer 108. Und auf der gegenüberliegenden Seite geht es wieder steil den Hang hinauf. Die Polizei ist mit vielen Kräften dabei, den Schienenstrang und die Hänge abzusuchen. Auf unserer Seite läuft ein Generator und erzeugt Strom, mit dem große Strahler in die Bäume leuchten. Und da sehen wir sie. Auf unserer Seite der Zugstrecke und auch auf der gegenüberliegenden Seite sind jeweils zwei Castoraktivisten bis in die Baumwipfel geklettert und haben sich, wie wir sehen können, fachmännisch mit Seilen und Haken in schwindelerregender Höhe angeseilt. Auf der gegenüberliegenden Seite prangt ein großes Banner mit der Forderung "Castor stoppen" ganz oben in den Bäumen. Die bekannte Kletterkünstlerin Cecile Lecomte, vor einigen Jahren französische Jugendmeisterin im Klettern ist da. Hier bei Marbach sollte eine der spektakulärsten Castoraktionen dieser Saison stattfinden. Wie in früheren Fällen wäre es sehr effektiv gewesen, den Castor dadurch zu stoppen, daß man sich von einem quer über die Bahnlinie gespannten Seil direkt vor dem Zug abseilt und ihn so an der Weiterfahrt hindert. Ein sehr mutiges , aber auch sehr gefährliches Unterfangen, bedenkt man die Hochspannungsleitungen über den Gleisen. Weitere Aktive hätten sich unterhalb dieser Stelle direkt an die Schienen gekettet. Doch es spannt sich kein Seil quer über die Bahn. Keine Aktiven sind unten angekettet. Die Polizei hat die Aktivisten zu früh bemerkt. Wer konnte, hat das Weite gesucht, die Polizei stellt die Rohre sicher, die unter und an den Gleisen versteckt waren, um sich daran festzuketten. Jetzt verstehen wir die aufwendige Suche der Polizei an den Gleisen und am Bahndamm. Während der ganzen Zeit durchfahren Personen- und Güterzüge die Szenerie, zwar langsam, teilweise in Schrittgeschwindigkeit, aber sie fahren.

Mittlerweile kommen die Meldungen über die Bewegungen des Zuges bei uns an, Mainaschaff, Langenselbold, Gelnhausen. Er kommt näher. Doch die Polzei hat ein Problem. In den Bäumen hängen die vier Streiter für eine atomkraftfreie Welt und wie kommt man an sie heran, um sie von den Bäumen zu bekommen? Zuerst am Ort war der HR, der angeblich ein Exklusivinterview mit den Kletterern geführt hat. Meine Begleiterin und ich sind erst das zweite Team der Presse vor Ort. Auf Fragen an die Polizei bekommen wir nur hinhaltende Äußerungen. Der Pressesprecher der Polizei sei auf dem Weg hierher. Vorher könnten sie nichts sagen. Nach und nach füllt sich die Szenerie. Erst langsam, dann in kürzeren Abständen geben sich Journalisten, Fotoreporter und Filmeleute hier ein Stelldichein. Reuters, DPA und auch die Redakteure von printzip sind vor Ort. Eine bizarre Szene tut sich vor dem Betrachter auf. Oben in den Bäumen die Aktiven mit ihrem Traum für eine bessere Welt. Unten die Scheinwerfer und die Polizei, die Recht und Ordnung verteidigen will und daneben die Menge der Medienleute, die mit 10-15 Leuten sich am Hang postieren um das Foto des Tages zu machen oder die Filmsequenz, die vielleicht in einigen Stunden im Fernsehen laufen wird. In Zeiten des Internet und der Smartphones sind die ersten Fotos der Kletterer bereits nach wenigen Minuten im Netz und illustrieren Artikel zum Castorprotest.

Mittlerweile war die Polizei auch nicht untätig. Wir sehen wie ein mit mehreren Seilen gesicherter Beamter auf der anderen Seite des Gleises auf einen Baum hochgezogen wird und anscheinend mit einem der Kletterer verhandelt. Durch die Äste der Bäume und auf die Entfernung ist die Sicht in der nur durch Strahler erleuchteten Nacht nur spärlich. Wir erkennen jedoch, daß diese Gespräche keinen Erfolg haben, denn der Polizeibeamte verläßt alleine wieder den Baum. Die vier Kletterer sind weiterhin sicher an ihren Bäumen angeseilt und versuchen sich, so gut es geht, durch leichte Kältedecken gegen die bissige Kälte zu schützen. Seit Stunden sind sie nun bereits in den Bäumen, fast bewegungsunfähg, im kalten Wind, Ursache der umtriebiegen Aktivitäten unter ihnen.

Nächster Akt: Aus Richtung Fulda kommt ein Betriebsfahrzeug der Bahn angefahren, mit dem üblicherweise die Hochspannungsleitungen über den Gleisen gewartet werden. Die Arbeiter machen sich in aller Ruhe ans Werk. Die Zeit vergeht. Auf dem Dach des Fahrzeuges befindet sich eine Art Hubkran mit einem Korb, in den nun zwei Arbeiter steigen, und mit dem Ausleger nach oben gefahren werden. Uns ist nicht ganz klar, was damit bezweckt werden soll, da der Korb wegen der Äste und der Bäume nicht nah an die Kletterer herankommt. So wird er einige Male hoch- und runtergefahren ohne das etwas Konkretes erreicht wird.

Mittlerweile ist es bereits Samstag, 2.15 Uhr. Vom Schienenfahrzeug ist ein Geräusch zu hören. Seitdem bewegt sich der Ausleger mit den beiden Beamten im Korb nicht mehr. Ob die beiden Dinge zusammenhängen, ist von unserem Standpunkt aus nicht zu erkennen. Der Ausleger hängt jetzt etwa 4 Meter über dem Boden, ganz seitlich weg von den Schienen ausgerichtet. Niemand unternimmt etwas. Irgendwie gibt es keine Aktivitäten der Polizei. Auch hier oben am Hang entwickelt sich eine gespannte Ruhe. Alle warten, warten auf was? Plötzlich die Meldung: Der Castor kommt. Gespannt richten sich alle Augen auf die Schienen. Einige Minuten passiert garnichts. Doch dann sieht man die Scheinwerfer und er kommt. Es ist 2.38 Uhr. Zwei Lokomotiven am Kopf des Zuges, dann vier oder fünf Personenwagen, die, wie wir von oben gut sehen können, gefüllt sind mit Polizeibeamten, dann die 11 Wagen, jeweils beladen mit einem weißen Castorbehalter, in denen die Abfälle einer Zivilisation strahlen, die ihre Grenzen verloren hat, die sich auf einen Weg begeben hat, der nicht in die Zukunft, sondern ins Nichts führt. Dahinter wieder vier oder fünf Personenwagen mit Polizeibeamten und zuletzt wieder zwei Lokomotiven.

Wir hier oben am Hang haben genug Sicherheitsabstand zu den strahlenden Behältern, aber die Menschen unten , die Polizeibeamten und Arbeiter im Schienenfahrzeug, sie sind teilweise nur 3-5 Meter vom Zug entfernt und bekommen somit wesentlich mehr Strahlung ab als wir. Ich wollte jetzt nicht da unten stehen, denke ich. Die Kameras klicken, die Durchfahrt wird dokumentiert und vielfach gefilmt. Wer jetzt die falsche Belichtung hat, stellt sie nicht mehr richtig ein. Der Zug ist schnell. Mit gefühlten 60 Stundenkilometern durchquert er die Stelle, an der die Aktivisten in den Bäumen hängen. Er ist auf dem Weg nach Hünfeld, wo er über zwei Stunden stehen wird, wahrscheinlich um die Lokomotiven oder das Personal zu wechseln.

Als der Zug vorbei ist, löst sich die Spannung auf und es beginnt eine Geschäftigkeit, die man zu dieser Zeit und bei der Kälte nicht mehr erwartet hätte. Vielleicht hat die Kälte aber auch ihren Anteil daran. Die Journalisten wollen zurück in ihre Redaktionen, um ihre Geschichten oder ihre Filme fertig zu bearbeiten. Die Medientems brechen auf, letzte Interviews mit dem Pressesprecher der Bundespolizei und des Polizeipräsidiums Osthessen werden gemacht. Auch wir brechen auf. Meine Begleiterin muß noch zurück nach Frankfurt, um ihre Story fertigzumachen. Die vier Kletterer hängen immer noch in den Bäumen. Auf dem Rückweg durch den dunklen Wald frage ich einen Beamten , was nun mit ihnen geschieht. Mit einem Schulterzucken antwortet er:"Entweder holen wir sie jetzt runter oder wir warten einfach, bis sie von alleine wieder runterkommen."

Tippfehlerkorrektur und Einfügung in Kontext hier Atomkraft

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