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Oleade

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[Bearbeiten] Kurzgeschichte von Bettina Licht

Jeden Morgen absolvierte Michael in aller Herrgottsfrühe seinen Rundflug über die Farm. Er flog immer die selbe Route. Das hätte langweilig werden können, wenn er nicht in der Vierfelderwirtschaft gearbeitet hätte. An diesem Tag inspizierte Michael zuerst die Kleinsten. Wie die Kadetten standen die blaugrünen Zwerge in endlosen Reihen im Wüstensand und streckten erwartungsvoll ihre zwei Ärmchen nach ihm aus. Hinter der Anhöhe erschienen dann die "Halbstarken". Sie bildeten einen stacheligen, undurchdringlichen Blätterwald, der wie ein dunkelgrüner Teppich den gelben Boden überdeckte. Michael blickte nach Osten. Es war bereits hell, doch von der Sonne lugten erst wenige Feuerstrahlen herauf. Er musste sich beeilen. Wenn Michael morgens aufbrach, zitterten und knisterten die Pflanzen noch vor der Frostkälte der Wüstennacht, doch sobald die Sonne sich nur wenige Zentimeter über dem Horizont erhoben hatte, brannte sie erbarmungslos alles nieder. Einzig den Oleaden-Pflanzen schien sie nichts anhaben zu können. Die krallten sich in den Boden hinein und reckten sich kerzengerade auf. Oleaden lieben die Hitze. Der neuartigen Zuchtform der Artischockenkarde war eine Leidenschaft für die Sonne mitgegeben worden.

Michael erreichte das Feld mit den ausgewachsenen Pflanzen. In zwei Tagen würde er sie ernten können. Soweit der Blick reichte, färbten die Blüten die Landschaft violett. Michael hatte fast den Eindruck, er überquerte das erstarrte Meer eines fremden Planeten. Die lilafarbenen Wellen unter ihm bewegten sich noch nicht einmal, wenn es windig war, so fest hielten die Oleadenstängel ihre Blütenköpfe aufrecht.

Über dem erntereifen Feld lag ein betäubender Duft, der bis ins Flugzeug hinaufzog. Milliarden von Insekten verloren darüber den Verstand. Manchmal, wenn das Feld mit den blühenden Oleaden näher an der Farm lag, ging Michael zu Fuß hin, um dem tiefen Brummton zu lauschen, den die Flügel der kleinen Honigfreunde erzeugten.

Für heute hatte Michael den Rundflug fast beendet. Einen Blick wollte er noch auf das Feld mit der Gründüngung aus Meerkohl werfen. Dieser Züchtung konnte man praktisch beim Wachsen zusehen. Jeden Tag überraschte das Feld mit einer anderen Erscheinung. Zwei Tage brauchten die schwarzen Meerkohlkrausen, um ihre Farbe in ein giftiges Purpur zu verwandeln, dann bildete innerhalb eines weiteren Tages jede Pflanze unzählige Knospen aus, die zu weißen Blüten mit gelben Augen explodierten. Schon bald schlossen sich die Blütenblätter und entwickelten sich zu erbsenartigen Samenkapseln. Bereits am nächsten Tag verloren all die kleinen Kugeln ihre lichte, grüne Farbe wieder, und das Feld wirkte wie ein ausgebleichter Leichnam.

Nun war es Zeit, den Meerkohl unterzupflügen. Die Rippen zerfielen im Boden und lieferten Nahrung für die nächste Generation der Oleaden.

An diesem Morgen stellte Michael fest, dass der Meerkohl am nächsten Tag würde dran glauben müssen. Das Feld breitete sich knochenblass unter ihm aus.

Er machte sich Notizen ins Palm, danach steuerte er seine Farm an.

Als er den Landeplatz neben seinem Wohnhaus erreichte, konnte er schon sehen, wie sich die Hühner unter ihrem Binsendach in den Sand eingegraben hatten, um sich vor der Hitze zu verstecken. Michael stellte den kleinen Motorflieger im Hangar ab und ging ins Haus.

Dort sorgte die Klimaanlage für angenehme Kühle. Wie alle Maschinen auf der Farm einschließlich des Flugzeugs lief sie mit Oleaden-Öl. "Macht den Scheich nicht mehr reich!" Sicherlich ging es bei der Oleadenfarm auch um diese alte Parole der Bewegung "Sonnenland", die es sich zur Aufgabe gestellt hatte, neue Wege der Energieversorgung zu entwickeln und durchzusetzen. Gerade in der letzten Zeit zeigte sich zudem, wie rasch die fossilen Brennstoffe weltweit abnahmen. Alternative Methoden der Energiegewinnung mussten gefunden werden.

Als Michael vor zehn Jahren noch Maschinenbau studierte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass er einmal Landwirt sein würde. Durch das Seminar bei Dr. Becker über Pflanzenöl betriebene Motoren kam er damals zur Bewegung.

Dort lernte er Sandra, seine erste und einzige große Liebe kennen: Jurastudentin, ehrgeizig, klug, beredt und hübsch. "Wenn du etwas für die Bewegung bewirken willst, musst du den Hebel bei den Schaltzentralen von Politik und Wirtschaft ansetzen", hatte sie damals immer gesagt. "Neue Technologien sind nur so gut wie die Möglichkeiten ihrer Durchsetzung. Die laufmaschenfreie Strumpfhose gibt es schon ewig, doch wer will sie produzieren?" Er erinnerte sich an die Diskussionen. Im Prinzip wusste jeder, dass Sandra sich nach ihrem Studium konsequent eine Stelle in einer der Schaltzentralen suchen würde. Michael faszinierten jedoch mehr die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung der "Sonnenland"-Ziele.

Wenn man liebt, wollen einem die unüberbrückbaren Gegensätze im Weltbild nicht auffallen. Es traf Michael daher tief, dass Sandra nur lachte, als er sie fragte, ob sie die Farm mit ihm zusammen aufmachen würde: "Du bist ein Fantast! Da kannst du ja gleich auf den Mond ziehen." Ab diesem Zeitpunkt trennten sich ihre Wege. Sandra schloss kurz darauf ihr Studium mit exzellenten Ergebnissen ab. Bereits während ihrer letzten Semester bekam sie immer wieder Stellenangebote, doch sie hielt sich alle Möglichkeiten offen. An ihrem vorletzten Prüfungstag unterschrieb sie den Vertrag mit der GRANTEC AG, löste zwei Tage später ihr Zimmer im Studentenwohnheim auf, spendierte ihm und ein paar Leuten von der Bewegung einen Abschiedscapuccino in ihrem Stammcafé und verschwand danach auf Nimmerwiedersehen.

'Ich werde nie mehr eine Frau lieben', hatte er damals beschlossen. Was er nicht ahnte, als er diesen Schwur aussprach: seit er die Farm führte, gab es überhaupt keine Gelegenheit mehr, eine Frau kennen zu lernen. Er benötigte keine Mitarbeiter; alles von der Aussaat über die Ernte bis zur Presse lief vollautomatisch. Das Öl wurde über eine Pipeline abtransportiert. Er bekam so gut wie nie Besuch, und wenn er Menschen sehen wollte, musste er fünfunddreißig Meilen nach Abenpool fahren. Und dort war die Auswahl an Mädchen im heiratsfähigen Alter äußerst begrenzt.

Außerdem gefiel ihm keine. Wenn man lange Zeit ohne Partner lebt, werden die Ansprüche ganz und gar unrealistisch. Diese Erkenntnis erfuhr Michael am eigenen Leib. Die beste Idee war gewesen, sich Falco, den bayerischen Gebirgsschweißhund, anzuschaffen.

Der begrüßte ihn jetzt überschwänglich. Michael tätschelte ihm gedankenverloren den Kopf und ging weiter ins Arbeitszimmer an den Computer, seine Nabelschnur in die Welt. Er fuhr die Maschine hoch und öffnete als Erstes die Kurzmeldungen des Tages. 'Als ob da schon jemals was wirklich Interessantes drin gestanden hätte', dachte er, als er die Überschriften nachlässig überflog. Kleines Erdbeben auf den Philippinen, Minister Brown wegen Privathausbau auf Staatskosten zurück getreten, Letzter Rotbandwaran der Welt im Zoo von Sydney gestorben. Jeden Tag das Gleiche. Hoher Anstieg der Weltölreserven. Die Überschrift traf in wie ein Schwerthieb. Sein Herz begann augenblicklich zu rasen, als wäre es in einen engen Käfig eingesperrt und versuchte, sich zu befreien. Er überflog die Notiz: Amerikanische Wissenschaftler stellten ein neues Verfahren vor, mit Hilfe dessen die in Ölsänden gebundenen Schwerölvorräte herausgelöst werden könnten. Gentechnologisch veränderte Bakterien sollten diese Aufgabe übernehmen.

Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte Michael, dass seine Aktienbrokerin sich bereits an ihrem Arbeitsplatz in der Bank befinden musste. Er griff rasch zu seinem Telefon und wählte ihre Nummer. "Westcoast Union Bank, Abteilung Wertpapiere. Sie sprechen mit Angela Drott. Was kann ich für Sie tun?"

Ihre freundliche ausgeglichene Stimme besänftigte ihn auf der Stelle wieder, daher schaffte er es nicht mehr, gleich unbeherrscht loszupoltern.

"Hier ist Michael Moor, haben Sie die Nachricht gelesen?", fragte er in gemäßigtem Ton. "Ja."

Es entstanden Schweigesekunden, bis Michael sich wieder aufraffte, etwas zu sagen.

"Und was haben Sie getan?"

"Nichts."

Der zweite schwere Schlag an diesem Morgen traf ihn.

"Wissen Sie denn nicht, was die Nachricht bedeutet? Meine Werte sind doch bestimmt im Keller! Ich muss sie los werden, solange es noch geht. Sie hätten sofort verkaufen müssen."

"Nein."

Jetzt wurde es Michael zu viel. "Sind Sie wahnsinnig?! Es ist ja nicht ihre Existenzgrundlage, die gerade den Bach runtergeht. Ich will, dass Sie verkaufen!"

"Ich werde nicht bei Tiefststand verkaufen. Wenn ich das täte, wäre Ihre Existenz wirklich gefährdet. Die Aktionäre geraten immer gleich in Panik und stoßen ihre Papiere ab, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Das ist unklug. Sie bekommen im Moment keinen Pfifferling für Ihre Aktien. Sie müssen Geduld haben. Denken Sie an die Nachricht vor einigen Monaten, als die "Fortschrittspartei" die Zucht von gentechnisch veränderten Nutzpflanzen und -tieren zulassen wollte. Da sollte ich Ihrer Meinung nach auch alles verkaufen. Und dann stellte sich heraus, dass der Gesetzesentwurf keine Chance hatte. Wissen Sie noch, wie die Oleade-Aktien danach stiegen? Und erinnern Sie sich an den Schlag, als Professor Rankin erschossen aufgefunden wurde? Der Mann, der mit seinen Forschungen erst die Grundlagen für die neuen Ölpflanzenzüchtungen gelegt hat. Und wahrscheinlich wurde er von den Erdöl produzierenden Ländern ausgeschaltet. Wissen Sie, wie die Kurse damals purzelten? Die Ermordung eines einzigen Wissenschaftlers kann die Entwicklung nicht aufhalten. Irgendwann in naher Zukunft wird kein Mensch mehr Erdöl kaufen wollen. Die Ölmagnate werden auf ihren Quellen sitzen bleiben. Das Erdölzeitalter wird zur Geschichte werden wie die Steinzeit. Beruhigen Sie sich. Machen Sie einen Spaziergang auf Ihrer schönen Farm und vertrauen Sie mir."

Michael war nach dieser Ansprache zu verwirrt, um weiterhin auf dem Verkauf der Aktien zu bestehen. "Sie wissen ja gar nichts", sagte er zu Angela, "Sie kennen meine Farm nicht. Sie haben doch keine Ahnung, ob sie schön oder hässlich oder sonst was ist."

"Doch, ich weiß es. Ich wohne ganz in Ihrer Nähe. Ich gehe oft an Ihren Feldern vorbei und schau' mir die Pflanzen an. Sie sind so wunderbar in ihrem ständig wechselnden Farbenspiel. Und der Duft, der von ihnen ausgeht. Manchmal wandere ich frühmorgens vor meiner Arbeit hin; dann raschelt der ganze Pflanzenwald, weil die Oleaden den Tau aus der Luft saugen.

Wenn sie nicht so stachelig wären, würde ich sie umarmen. Immer habe ich davon geträumt, eine Farm wie die Ihre zu besitzen. Glauben Sie mir, die Stelle bei der Bank ist nur eine Notlösung für mich gewesen."

Angelas Bekenntnis stürzte Michael in weitere Verwirrung. Er verabschiedete sich kurz und legte auf. Nun war es still um ihn, nur die Klimaanlage summte gleichmäßig, und Falco lag hechelnd neben ihm und schaute ihn aufmerksam und erwartungsvoll an.

'Was mach' ich bloß? Willi kontaktieren!' Michael öffnete das Oleade-Aktien-Forum. Achtundzwanzig Leute waren online. Er durchsuchte die Adressen. Willi war dabei. Michael schaltete auf "Sprechen und Hören" und klickte Willi an. "Mensch, dass du dich auch endlich mal meldest!", begrüßte der ihn sofort. "Hier ist doch seit heut' morgen um Fünf die Hölle los. Hast du noch verkaufen können?" "Warum habt ihr mich nicht angerufen?", entgegnete Michael empört. "Weil du, verdammt noch mal, hinter dem Mond lebst! Wir haben dich nicht erreicht. Hat deine Brokerin wenigstens gespurt?" Willis Frage war ein Dolchstoß in Michaels Eingeweide. Er zögerte zuzugeben, dass Angela nichts unternommen hatte; doch dann sagte er: "Sie hat mir abgeraten, zu verkaufen. Sie meint, die Aufregung gibt sich wieder."

"Du bist ein Spinner", stellte Willi resigniert fest. "Es ist ja nicht so, dass wir nicht seit Monaten auf dich eingeredet hätten, du sollst dich von der Bank trennen. Kein Mensch arbeitet heutzutage noch mit einer Brokerin. Du siehst ja, dass die Banken schwerfällig wie Dinosaurier sind, du hättest schon lange auf Online-Handel umsteigen müssen." Die Vorwürfe seines alten Freundes aus der Bewegung "Sonnenland" trafen Michael, und er war erneut unentschlossen, was er daraufhin vorbringen sollte. "Was habt ihr getan?", fragte er nach einer kurzen Gesprächspause.

"Selbstverständlich noch verkauft, solange es ging. Hau' weg das Zeug! Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Die Papiere stehen momentan bei einem Zehntel des gestrigen Wertes. Wir haben alle riesige Verluste gemacht." Michael verzweifelte: "Bei euch sind es nur Zahlen auf Papier, aber ich kann die Farm dichtmachen, wenn die Bakterienmethode zur Erdölgewinnung funktioniert." "Zahlen auf Papier! Du bist lustig", antwortete Willi gereizt. "Die Oleade-Aktien sind mein größter Batzen gewesen. Meinst du, ich steck' das alles so locker weg? Ich hab' die Hypothek aufs Haus und dann Marga und die Kinder ..." Willi redete sich in Zorn: "Du hast nicht die leiseste Ahnung. Du bist allein. Wenn du die Farm aufgeben musst, suchst du dir eben wieder einen Job irgendwo. Du bist ungebunden, du kannst hingehen, wohin du willst, musst auf niemanden Rücksicht nehmen. 'Zahlen auf Papier!' Ich lach' mich tot."

Das Gespräch mit Willi war auf einem Tiefpunkt gelandet. Michael blieb nur noch die Möglichkeit, sich kurz zu verabschieden und sich auszuklinken. Wütend schaltete er den Computer aus und stand auf. Falco freute sich, als er merkte, dass Michael sich anschickte, das Haus zu verlassen. Augenblicklich sprang er auf, tanzte im Zimmer herum und wedelte erregt mit dem Schwanz. Ohne weiter auf den Hund zu achten, trat Michael vor die Haustür. Die Hitze schlug ihm erbarmungslos entgegen und raubte ihm fast den Atem. 'Das Klima ist sowieso beschissen hier. Vielleicht ist es gut, wenn ich die Farm verkaufen muss', dachte er. Er blickte sich auf dem Gelände um. Von den Tieren war kaum ein Laut zu hören. Die Hühner dösten in ihrem Pferch. Er ging rüber zum Stall, um den Kühen ihre Morgenration Ölpresskuchen zu füttern. Seine Tiere kamen ihm aus ihrem Freilauf entgegen und murrten schon ungeduldig, als er eintrat, weil er sich heute verspätet hatte. "O.k., ihr kriegt euer Futter ja schon", versuchte Michael die Kühe zu beruhigen. Es wurde ihm plötzlich bewusst, dass er in der letzten Zeit immer häufiger mit seinen Tieren sprach. 'Ja', dachte Michael, 'vielleicht ist es besser, wenn ich hier weggehe. Es ist sowieso ungesund, immer allein zu leben. Ich spreche mit Hühnern und Kühen! Und manchmal sogar mit Pflanzen. Willi hat Recht. Was soll schon passieren. Ich gebe das ganze Gerümpel auf, such' mir einen Job als Maschinenbauingenieur und ziehe in die Stadt. Nach mir die Sintflut.' Missmutig schaufelte er die Pressabfälle der Oleaden in die Fresströge. Falco war ihm gefolgt, turnte übermütig zwischen den Beinen der Kühe umher und schnüffelte hier und da.

Als Michael mit seiner Arbeit fertig war, griff er sich seinen Hut vom Haken im Stall und marschierte einer plötzlichen Eingebung folgend in Richtung seiner Felder. Falco, dem die Hitze nichts auszumachen schien, rannte voraus. 'Sonnenland!', dachte Michael verbittert. Er blickte über die sich bis zum Horizont ausstreckenden Fluren, schritt energisch den Feldweg entlang, vorbei am dunkelgrünen Stachelgestrüpp der halbhohen Pflanzen, bis er die Gegend mit den blühenden Oleaden erreichte. Schon lange, bevor das violette Areal zu sehen war, zog ihm der durchdringende Blütenduft entgegen. Er fühlte sich wie betäubt durch die Hitze und den Geruch. Als er direkt vor den reifen Pflanzen stand, merkte er erst wieder, wie groß sie waren. Zwei Meter ragten die Oleaden mindestens in die Höhe. Michael kam sich ohnmächtig vor. "Verdammte Teufelsbrut!", sprach er zu den Disteln. "Ich pflüg' euch alle unter!" Die Pflanzen erhoben sich wie eine Wand vor ihm und rührten sich nicht. Wütend trat Michael auf die erste Reihe zu, griff eine Oleade am Hals und versuchte, sie aus dem Boden zu reißen. Doch die Pflanze klammerte sich tief im Sand fest. Als Michael auf seine Hände blickte, mit denen er den Stängel umschloss und schüttelte, sah er Blut hervorquellen. Das stachelige Biest hatte seine Handflächen zerschnitten. Angewidert ließ er los und schaute benommen auf seine blutigen Finger. Wie in Trance ging er einen Schritt zurück. Der hinter ihm sitzende Falco sprang auf und jaulte, weil Michael seine Pfote erwischt hatte. "Blöder Hund", schimpfte Michael ungerecht. Er wandte sich vom Oleadenfeld ab und trat entschlossen den Rückweg zur Farm an. 'Von euch lass ich mich doch nicht fertig machen!', entschied er verbissen.

Als er zurück kam, lag die Farm immer noch still und unbeweglich in der Hitze da. Auf den gerippten Edelstahlbehältern für die Silage gleißte das Sonnenlicht, die Solarzellen auf dem Hausdach schimmerten geheimnisvoll, ein Huhn piepte im Halbschlaf.

Michael ging zielstrebig ins Haus, holte das Telefon herbei und wählte die Nummer der Westcoast Union Bank. Angelas ruhige Stimme begrüßte ihn freundlich.

Michael kam sofort zur Sache: "Moor hier noch mal, ich möchte, dass Sie verkaufen, egal zu welchem Preis."

"Das können Sie nicht machen! Haben Sie sich die Entwicklung angeschaut? Die Werte purzeln praktisch von Minute zu Minute. Ich beschwöre Sie, verkaufen Sie nicht am Tiefpunkt. Gedulden Sie sich, das kann morgen schon wieder anders aussehen."

"Das ist mir egal", brach es aus Michael heraus. "Ich hab' die Schnauze gestrichen voll von allem. Ich kann die ewige Zitterpartie mit den Aktien nicht mehr ertragen. Ich hör' auf damit. Die Farm verkaufe ich auch. Sie wissen nicht, wie das ist. Seit vier Jahren bin ich allein. Ich arbeite den ganzen Tag. Ich habe nie frei. Ich bin der Sklave meines Unternehmens. Ich habe keinen Urlaub, ich habe keine Freunde, ich habe keine Frau. Für wen, bitte schön, soll ich mich hier abrackern?" "Sie sind nicht der einzige Mensch, der allein ist", sagte Angela. "Und Sie haben wenigstens noch etwas Sinnvolles geschaffen in Ihrem Leben. Die Farm ist toll. Ich beneide Sie darum. Ich wünschte, ich hätte so etwas vorzuweisen. Stattdessen sitze ich in meinem langweiligen Büro und handele mit trockenen Zahlen. Und was fange ich mit meinem Urlaub an? Ich gehe ins Schwimmbad nach Abenpool oder hüte die Katze meiner Mutter. Das höchste der Gefühle ist es, wenn ich beim Sommerfest der Kirchengemeinde die Tombola betreuen darf. Eine Farm zu besitzen, das ist was! Verkaufen Sie nicht, ich bitte Sie."

Zum ersten Mal in ihrer Beziehung erfuhr Michael etwas Persönliches von Angela. Ihre sonstigen Gespräche drehten sich allein um den Aktienmarkt. Er gewann auf einmal einen völlig anderen Eindruck von ihr. Bisher hatte sie nur eine - durchaus angenehme - Stimme dargestellt. Plötzlich war sie eine lebendige Frau mit Wünschen und Bedürfnissen. Das verunsicherte ihn. Bereits bei ihrem ersten Telefonat an diesem verflixten Morgen hatte sie ihm etwas von sich offenbart, nämlich, dass sie seine Farm kannte.

Nachdem Michael sich kurz seinen neuen Empfindungen gegenüber Angela hingegeben hatte, fasste er sich wieder und sagte bestimmt: "Egal, was Sie anbringen, ich bin entschlossen zu verkaufen."

Angela schwieg einen Moment, so dass Michael ein bisschen Angst bekam, ob sie noch am Apparat war, aber bevor er nachfragen konnte, sprach sie knapp: "Ich werde versuchen, das Beste rauszuholen". Dann verabschiedete sie sich und legte auf.

Michael blieb verstört sitzen. Er war enttäuscht, dass sie nicht mehr weitergeredet hatte. Insgeheim wünschte er, sie hätte noch hartnäckiger versucht, ihn von der Sache mit dem Verkauf der Aktien und der Farm abzubringen.

Der Wüstenwind formte den Sandboden des Farmhofs zu kleinen Wirbeln aus. Michael trat, gefolgt von Falco, aus dem Haus, um rüber zum Kuhstall zu gehen. Die Tiere mussten gefüttert werden. An diesem Tag lag drückender Dunst über der Landschaft.

Seinen Rundflug hatte Michael schon absolviert. Auch die Weltnachrichten waren abgehakt. Seit Michael die Aktien abgestoßen hatte, blieb ihm morgens viel mehr Zeit für andere Dinge. Das ständige Kontrollieren der Märkte nervte sowieso nach und nach. Die täglichen Besuche des Internet-Forums, die Telefonate mit seiner Brokerin, der ewige Stress mit dem Auf und Ab der Wertpapiere: mit all dem war jetzt Schluss. 'Ich bin für den Aktienmarkt nicht geeignet', beschloss Michael nach der letzten Horrormeldung. So wie es Angela vorausgesagt hatte, relativierte sich die Nachricht einige Tage später wieder. Die Bakterien entpuppten sich als unkontrollierbares Risiko. Sie produzierten giftige Ausscheidungen. Außerdem blieben sie in der Produktionsmenge an Erdöl weit hinter den hochfliegenden Versprechungen der Wissenschaftler zurück. Als eine Woche nach Bekanntgabe der Forschungsergebnisse einer der Laborassistenten auf ungeklärte Weise ums Leben kam, wurde die Weiterarbeit an dem Bakterienprojekt bis auf Weiteres eingestellt. Selbstredend stiegen die Oleade-Aktien sprunghaft in den Himmel.

'Egal', dachte Michael, 'es ist jetzt entschieden. Ich hab' ja die Farm, ich brauche keine Aktien.' Das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Manchmal überwog in Michaels Gedanken der Zweifel über seine Entscheidung, und er haderte mit sich. 'Ms. Drott lag richtig mit ihren Empfehlungen. Wieso hab' ich auf Willi gehört, der selbst so betroffen war, keinen Abstand zu der Sache hatte?', sah er nun ein. Die Aktienleute wurden von den Wellenbewegungen des Marktes auf und niedergeschleudert und verloren zwangsläufig irgendwann den Boden unter den Füßen. Das war auch der Grund gewesen, warum Michael gezögert hatte, seine Börsengeschäfte selbständig über Internet abzuwickeln. Außerdem, das musste er sich eingestehen, hatte er gerne mit Angela telefoniert. "Zu einer Aktienbrokerin entwickelt man mit der Zeit fast so eine intime Beziehung wie zu einer Ärztin", bemerkte er gegenüber Willi einmal, als der ihn wieder dazu überreden wollte, auf Online-Handel umzusteigen. Michael bedauerte, dass es nun keinen Grund mehr gab, die Westcoast Union Bank anzurufen. Er ließ nur zögernd in sein Bewusstsein dringen, dass die letzten Telefonate mit Angela ihn noch nachhaltig beschäftigt hatten. Sie kannte seine Farm, sie ging bei seinen Feldern spazieren. Wohlmöglich kannte sie ihn auch. Vielleicht hatte er sie schon öfters in Abenpool getroffen und hatte nicht gewusst, dass sie es war. 'Egal', dachte er, 'das Kapitel ist ein für alle mal abgeschlossen!'

Nachdem die Kühe versorgt waren, pfiff Michael nach Falco. Der eilte neugierig herbei und sprang aufgeregt um Michael herum, als er merkte, dass sie zu einem Spaziergang aufbrechen würden. Zuerst gingen die beiden zum Meerkohl. Bis zum Horizont breiteten sich die Pflanzen mit ihren erbsenartigen Samenkapseln aus. Blickte man über das Areal, so tat einem die hellgrüne Farbe fast in den Augen weh. "Noch zwei Tage, und dann geht's euch an den Kragen", sagte Michael zu den sich im Wind wiegenden Wellen.

Nun wandte er sich in Richtung der ausgewachsenen Oleaden. Schon lange bevor er die Anhöhe, hinter der das Feld lag, erreichte, wehte ihm der unverwechselbare Duft entgegen. Falco sprang heiter voraus. Als der Hund auf der Kuppe angekommen war, bellte er unvermittelt los. "Was gibt's, Falco?", rief Michael. Als er selbst den Punkt erreichte, sah er am Ufer des Oleadenfeldes eine Frau stehen. Sie hatte ihren Blick auf das Feld gerichtet. Ihr weißes Kleid und ihre langen blonden Haare wehten im Wind. Es schien fast, als sei sie mit den Pflanzen in ein Gespräch vertieft.

Michael befahl Falco, brav zu sein, und ging auf die Frau zu. Als er näher kam, drehte sie sich zu ihm um und schaute ihm ruhig entgegen.

"Was machen Sie hier?", fragte Michael sie verwundert.

"Ich schau' mir die Pflanzen an."

Die Stimme kam Michael bekannt vor.

"Kennen wir uns?", wollte er wissen.

"Wie man's nimmt", entgegnete sie und blickte wieder zurück zum Oleadenfeld, leicht verlegen, wie es Michael vorkam. Sie schwiegen. Nach einer Weile ergriff die Frau erneut das Wort: "Ich bin Angela Drott."

Das Bekenntnis versetzte Michael einen kleinen Schock. 'Ich bin ein Idiot, ich hätte es doch sofort wissen müssen', dachte er.

"Und? Haben Sie heute frei. Gehen Sie nicht in Ihre Bank?" In dem Moment, als er diese dämliche Frage stellte, hätte er sich auf die Zunge beißen können.

Sie schaute ihm wieder gerade in die Augen, setzte ein umwerfendes Lächeln auf und antwortete: "Ich habe gekündigt. Diese Woche hab' ich noch meinen Resturlaub genommen."

"Das habe ich nicht gewusst", sagte Michael und kam sich abermals wie ein Schwachkopf vor.

"Woher sollten Sie das auch wissen, Sie haben ja nie mehr angerufen." Es schien Michael, als klänge in der Antwort ein leiser Vorwurf mit. Er wurde etwas ärgerlich und versuchte, sich zu rechtfertigen: "Was für einen Grund hätte ich wohl gehabt, Sie noch mal anzurufen, nachdem die Aktien verkauft waren?"

"Ich verstehe", bemerkte sie knapp dazu. Michael hatte das Gefühl, sie sei wegen irgend etwas verstimmt. Er studierte ihr Gesicht und ihre Erscheinung und fragte sich insgeheim, warum ihm eine so schöne Frau in Abenpool bisher noch nie aufgefallen war. Der Eindruck, den sie in ihrem schlichten Kleid vor dem lilafarbenen Feld in ihm hervorrief, war unvergleichlich stark.

"Werden Sie Abenpool verlassen?", fragte er sie beunruhigt.

Jetzt lächelte sie wieder. "Nein, im Gegenteil, ich werde sogar noch mehr in Ihre Nähe ziehen", erklärte sie ihm, obwohl er sie das gar nicht so direkt gefragt hatte.

"Tatsächlich?"

'Warum muss ich nur immer antworten wie ein Esel', dachte Michael. Glücklicherweise schien Angela nicht zu bemerken, wie dumm und verunsichert er plötzlich war. Er hörte sie fröhlich weitersprechen: "Ich habe mir die Farm in Ihrer Nachbarschaft gekauft. Stellen Sie sich vor, ich werde nun Farmerin, so wie ich's mir immer gewünscht habe. Ich werde Oleaden anbauen, deswegen schaue ich mir gerade Ihre Felder an. Mein neues Wohnhaus wird zur Zeit instand gesetzt. In vier Wochen kann ich einziehen. Sie müssen mich unbedingt besuchen kommen!"

Ihre Begeisterung steckte Michael an, und er bekam auf einmal auch gute Laune. "Gerne", sagte er freudig und dann: "wie haben Sie das nur geschafft? Die Farm war doch bestimmt nicht billig. Ich weiß noch, wie es war, als ich damals anfing."

Angela schaute ihn vergnügt an und sagte: "Ich habe in Oleade-Aktien investiert", und dann fügte sie schnell hinzu, "wirklich reich kann man ja damit nicht werden, aber das Startkapital für die Farm hat der Verkauf erbracht."

Michael verschlug es die Sprache.

Angela schwieg auch. Sie sah ihm nochmals lange und bedeutungsvoll in die Augen und schickte sich dann an, weiterzugehen, ihn zu verlassen.

Tausend Gedanken schossen Michael durch den Kopf. 'Tu' doch etwas', befahl er sich. 'Sag' irgendwas, damit sie noch dableibt! Lad' sie auf deine Farm ein'. Er war aber aus der Übung, was Frauen betraf, kriegte nichts Vernünftiges hin und hörte sie sagen: "Ich muss weiter. Bis bald. Ich ruf' Sie an. Und wenn Sie mich besuchen kommen, dann bringen Sie Ihren Hund mit." Beim Wort "Hund" fühlte Falco sich angesprochen und musste unwillkürlich seinen Schwanz hin und her bewegen.

Angela gab Michael etwas unbeholfen die Hand, drehte sich um und ging beschwingt im Schatten der mächtigen Oleaden zur Linken davon, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen.

Michael schaute hinter ihr her, bis der weiße Punkt endgültig in der dunstigen Weite verschwunden war. Dann sagte er zu Falco: "Gell, du magst sie auch."

In dem Bewusstsein, ein wahrer Glückspilz zu sein, betrachtete Michael noch eine Weile seine Oleaden und wanderte dann unbeschwert nach Hause zurück.


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