Zug der Erinnerung - Rede Dr. Thomas Heiler

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„Fuldaer, vergesst uns nicht!“

Inhaltsverzeichnis

Fakten und Zahlen zur Deportation jüdischer BürgerInnen

(Rede von Stadtarchivar Dr. Thomas Heiler am 9.12.2007 bei der Begrüßung „Zug der Erinnerung“)

Die Bedeutung der Archive

„Fuldaer, vergesst uns nicht“ – diese eindringliche Aufforderung haben die Organisatoren der heutigen Veranstaltung der nun folgenden, aus Archivquellen entnommenen Bestandsaufnahme eines immer noch unfassbaren Geschehens vorangestellt. Die Mahnung ist gerade an dieser Stelle angebracht, denn Archive gehören zu den wichtigsten Dämmen einer demokratischen Gesellschaft gegen das Vergessen. In den Archiven finden sich die Spuren von Menschen, die längst aus dem Gedächtnis der Allgemeinheit verschwunden sind.

Allerdings, in den Archiven sind vor allem die Unterlagen der Verwaltung überliefert, Dokumente also, die nicht um der Unterrichtung der Nachwelt willen geschrieben wurden. Die Karteien und Akten der öffentlichen Archive dokumentieren den Verwaltungsvollzug, sie zeigen den Bürger, der dem Staat mit seinen Wünschen oder aber seinen Verpflichtungen gegenübertritt. In jenen Zeiten, in denen sich Diktaturen der staatlichen und kommunalen Behörden bemächtigen, spiegelt sich in der Überlieferung der Archive das allgemeine Unrecht wider. Und so haben wir die makabre Situation, dass wir über viele Opfer nur etwas erfahren, weil es Täter und Mitläufer gab, die ihr Handeln für vorschriftsmäßig hielten und den Vollzug einer Anordnung akribisch niederschrieben.

Die folgenden Zahlen beruhen auf der Überlieferung der städtischen Meldeunterlagen. Vor und nach den Nationalsozialisten gab es Meldekarteien. Diese sind ein nützliches Instrument der Verwaltung und zunächst völlig unverdächtig. Das Unrecht begann, als die Meldekarten aller Fuldaer Einwohner jüdischen Glaubens aus der Gesamtkartei herausgezogen und separat als jüdische Meldekartei geführt wurden. Der erste Schritt zur effizienteren Überwachung und Drangsalierung einer solchermaßen ausgegrenzten Bevölkerungsgruppe war damit getan. Der letzte Schritt war ein fein säuberlich und wieder besseres Wissen geschriebener lapidarer Vermerk auf der Meldekarte an jener Stelle, wo sonst ordnungsgemäß die Wegzugsadresse einzutragen war: „nach dem Osten abgeschoben“ findet sich gleichlautend auf allen Karten jener Fuldaer Juden, die am 8. Dezember 1941 in die Vernichtungslager geschickt wurden. Bei den Deportierten, die am 30. Mai und 5. September 1942 von hier aus die Stadt verlassen mussten, war auf Befehl der Gestapo-Außenstelle Fulda an Oberbürgermeister Danzebrink in den Melderegistern der Vermerk „Unbekannt verzogen“ oder „Ausgewandert“ anzubringen.


Daten zur Größe der jüdischen Gemeinde 1933-1942

Zu Beginn des Jahres 1933, wenige Tage vor der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten, lebten in Fulda, das damals etwa 28.000 Einwohner zählte,1.119 Menschen jüdischen Glaubens. Sie hatten fast alle die deutsche Staatsangehörigkeit, etwa die Hälfte von ihnen war in Fulda geboren, viele Familien lebten schon seit Generationen in der Stadt. Die Terrorisierung und systematische Entrechtung der jüdischen Bevölkerung führte zu einer kontinuierlichen Abwanderung in andere Orte, zunächst vor allem innerhalb Deutschlands, seit 1935 aber gezielt in die Emigration. Zum Jahresende 1933 wurden noch 1.029 Fuldaer Juden gezählt, 1934 waren es 961, 1935 925, 1936 873, 1937 780, 1938 613; 1939 310; 1940 265; 1941 115. Ende 1942 gab es niemanden mehr, den die Statistik hätte erfassen können. Allein 1938, das Jahr in dem die Synagogen brannten, kehrten 426 jüdische Bürger Fuldas ihrer Stadt den Rücken, 322 von ihnen konnten ihr Leben durch die Flucht ins Ausland retten.


Emigration

Bevorzugtes Emigrationsland waren die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Nach dorthin meldeten sich von 1935 bis 1941 278 Personen ab; nach Palästina gingen 212, nach England 187 Fuldaer Juden. Sie dürften sich ebenso in Sicherheit gebracht haben wie jene, die nach Argentinien, Brasilien, Paraguay, Kuba und nach Südafrika emigrierten. Ungewiss ist das Schicksal derjenigen 92 Personen, die nach Holland und Frankreich verzogen. Gerade einmal 14 Menschen wurden im Jahre 1939 von der sicheren Schweiz aufgenommen.

Überlagert wurde die Abwanderung aus Fulda durch den Zuzug von insgesamt etwa 600 Juden, die überwiegend aus den ländlichen Regionen der näheren Umgebung stammten und offenbar in der Anonymität einer größeren Stadt Schutz vor den Nachstellungen ihrer Nachbarn auf den Dörfern suchten.


Deportation

Bereits am 28. Oktober 1938 gab es in Fulda die erste Deportation. Betroffen waren 47 Juden polnischer Nationalität, darunter auch 16 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, die nach Polen abgeschoben werden sollten. Grundlage war ein Befehl des Reichsführers der SS vom 26.10.1938 zur Ausweisung aller Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Gebiet des Deutschen Reiches. Nachdem man den Betroffenen nur einen Tag Zeit gegeben hatte, um das Notwendigste zu packen, wurden sie mit dem Bus von Fulda nach Kassel gebracht, um von dort an die polnische Grenze weitergeleitet zu werden. Da sich das damals noch selbständige Polen weigerte, die Vertriebenen aufzunehmen, kamen sie wieder nach Fulda zurück. Ihr Schicksal ist gut dokumentiert, da sich ein ausführlicher Schriftwechsel der Behörden erhalten hat. Hierbei ging es nicht um die Menschen, sondern um die Frage, wer die Deportation zu bezahlen habe. Man einigte sich schließlich darauf, den Zurückgekehrten die Transportkosten ihrer Vertreibung in Rechnung zu stellen.

In Verfolgung der sogenannten Endlösung der Judenfrage, die seit 1941 nichts anderes bedeutete als die systematische Ermordung der europäischen Juden, wurde in Fulda im Jahre 1941 und 1942 die bis dahin noch in der Stadt verbliebene jüdische Bevölkerung in drei Deportationszügen in den Tod geschickt.


Die Opfer des 8. Dezember 1941 unter den Kindern und Jugendlichen

Der erste Zug hielt gestern vor 66 Jahren, am 8. Dezember 1941, auf dem hiesigen Bahnhof. In ihn trieb man 134 Personen. Die älteste unter ihnen, Selma Bär, war 66 Jahre alt, die jüngste, Hanna Hess, war erst zweieinhalb Monate zuvor geboren worden. Die offizielle Deportationsliste führt unter den Berufsangaben der Deportierten 22 Schüler. Insgesamt waren es 31 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, die an diesem Tag abgeholt wurden, um in ein Vernichtungslager bei Riga gefahren zu werden. Sehr häufig waren gleich mehrere Geschwister in den Zug gepfercht worden:

Martin, Max, Ilse, Fritz und Aron Goldschmidt im Alter zwischen 3 und 15 Jahren mussten mit ihren Eltern, dem Handelsmann Abraham Goldschmidt und seine Frau Ida, die ungewisse Reise antreten. Fritz Goldschmidt überlebte und kam sogar 1945 kurzfristig nach Fulda zurück, um danach nach Israel auszuwandern. Josef und Friederike Hess waren 3 und 6 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern, dem Kaufmann Ludwig Hess und seiner Ehefrau Rita, den Zug bestiegen. Ihre kleine Schwester, Hanna Hess, war, wie bereits gehört, mit ihren nicht einmal drei Monaten die jüngste im Zug. Moritz, Gustel und Salomon Kasten im Alter zwischen 7 und 13 Jahren, hatten als polnische Juden bereits die gescheiterte Abschiebung nach Polen im Jahre 1938 hinter sich gebracht, um nun mit ihrer Mutter Ida ein zweites Mal aus Fulda vertrieben zu werden. Clara, Adolf und Eva Lehmann wurden ebenso mit ihren Eltern an diesem 8.12.1941 deportiert wie die Zwillinge Kurt und Fritz Löwenberg mit ihrem Bruder Martin. Als Opfer zu nennen sind auch die Geschwister Judis, Hermann und Herta Mayer, Günter und Marga Rapp, Karola und Sally Tockus, Ruth und Justin Weinberg sowie Kurt und Erika Weinberger. Als Einzelkinder wurden deportiert: Ernst Adler, Horst Jüngster, Mally Stern und Bela Weinberg.

Zwangsarbeit und vorübergehende Auslöschung der jüdischen Gemeinde

Die Deportationsliste nennt unter den Berufen der Väter dieser Kinder meist Erdarbeiter oder Fabrikarbeiter, obwohl es sich doch um Kaufleute handelte. Ein Hinweis darauf, dass die Fuldaer Juden zu dieser Zeit zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Das Arbeitsamt Fulda hatte deshalb zunächst gegen die Deportation Beschwerde eingelegt, da man einen Arbeitskräftemangel befürchtete. Der Bedarf wurde in der Folge mit Kriegsgefangenen und nicht-jüdischen Zwangsarbeitern gedeckt.

Der großen Deportation vom 8. Dezember folgten noch zwei weitere. Am 30. Mai 1942 wurden 36 Fuldaer im Alter zwischen 14 und 72 Jahren mit unbekanntem Ziel mutmaßlich in den Raum Lublin gebracht. Die danach noch verbliebenen 76 Fuldaer Juden, viele von ihnen im Alter über 70 Jahren, die älteste Fanny Adler 87 Jahre alt, wurden ebenfalls hier von diesem Ort im September des Jahres 1942 mit dem letzten Deportationszug über Kassel in den sicheren Tod nach Theresienstadt gefahren.


Menschen werden totgeschwiegen

„Fuldaer, vergeßt uns nicht“, dies ist eine Mahnung, die vor allem auf einer Erfahrung beruht: Der physischen Vernichtung von Menschen ging zunächst ihre Ausgrenzung und ihre Auslöschung aus dem Gedächtnis voraus. Im Jahre 1938 erschien eine Festschrift zum einhundertjährigen Jubiläum der Fuldaer Realschule, der Vorgängerin der heutigen Freiherr-vom-Stein-Schule. Diese hatte vor dem Jahre 1933 traditionell einen hohen Anteil an jüdischen Schülern. In der Festschrift findet sich nichts davon. In den dort abgedruckten Listen der ehemaligen Schüler werden alle Juden totgeschwiegen und damit aus der Geschichte der Schule einfach gestrichen. Ein Jahr zuvor hatte das Fuldaer Adressbuch des Jahres 1937 erstmals die jüdischen Einwohner im Anhang gesondert abgedruckt, um sie in der folgenden, 1939 erschienen Ausgabe des Adressbuchs völlig zu ignorieren. Durch solche Formen der offiziellen Auslöschung von Menschen war der Boden bereitet für den systematischen Massenmord. Jede Form der Erinnerung, wie auch die heutige Veranstaltung, trägt dazu bei, den Opfern ihre Würde zurückzugeben.

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